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Datum: 01.02.2023

Die Tradition der Steinheimer Schuhmacher

Steinheim war mehr als ein Jahrhundert weit über die Landesgrenzen hinaus für seine Möbelindustrie bekannt, die das Arbeiten und gesellschaftliche Leben in der Stadt bestimmte. Die qualitativ hochwertigen Möbel fanden weltweit ihre Abnehmer, und das hier ansässige Möbelmuseum gibt einen guten Einblick in ihre Geschichte.

Weniger bekannt hingegen ist, dass Steinheim auch auf eine sehr alte Schuhmacher-Tradition zurückblicken kann, die aber bisher aufgrund ihrer zeitlichen Ferne im Schatten der Möbelindustrie steht. So beschreibt der preußische Kriegsrat Philipp von Pestel die Stadt Steinheim im Jahre 1803 folgendermaßen: „Das Städtchen hat 269 Häuser und 1.326 Seelen. Eine fruchtbare Feldmark kann die Einwohner des Ortes ernähren, deren viele sich auch mit Professionen beschäftigen, unter denen die Schuster sich auszeichnen. Diese verfertigen viele ihrer Arbeiten zum Verkauf auf die umliegenden Märkte“.
Im Mittelalter hatten sich die Steinheimer Schuster wie andere Handwerksbetriebe auch zu einer Gilde (Zunft) zusammengeschlossen, wovon ein Gildebrief aus dem Jahr 1560 mit Zusätzen der Jahre 1600, 1602 und 1647 Zeugnis ablegt. Hier werden – in 22 Paragraphen gegliedert – etwa die Aufnahmebedingungen in die Zunft geregelt, Rechte und Pflichten des Mitglieds erläutert, sowie ein Ehrenkodex aufgestellt. Gleichfalls sind die Strafen für etwaige Verfehlungen seitens der Zunftmitglieder im Detail festgelegt. Gildemitglieder mußten frei geboren sein, eine Aufnahmegebühr bezahlen, sowie die Befähigung zum Beruf durch selbst hergestellte Schuhe nachweisen. Außerdem hatten sie sich in der Öffentlichkeit anständig zu benehmen.

Siegel der Schustergilde
Siegel der Schustergilde

Aus dieser Zeit stammt auch das schöne Amtssiegel der Steinheimer Schuhmacher-Zunft. Das Bild zeigt einen kaiserlichen Doppeladler zwischen deren Flügel sich ein mittelalterlicher Schaftstiefel mit Sporen befindet. Unter den Flügeln ist jeweils ein schlichterer Schuh gesetzt. Der Legende nach hatte sich der Schuhmacher-Geselle Hans Sagan 1370 bei der Schlacht von Rudau (beim ehemaligen Königsberg) durch besondere Tapferkeit ausgezeichnet, weshalb Kaiser Karl IV. (1316 bis 1378) der Schumacher-Zunft gestattete, für ewige Zeiten den kaiserlichen Doppeladler im Siegel und Wappen zu führen.

Um 1800 gab es in Steinheim über 60 Schuhmacher, die weit über den örtlichen Bedarf hinaus produzierten und die ihre Schuhe und Stiefel aufgrund von Qualität und Preisgestaltung auf näheren und fernen Märkten absetzen konnten. Das bedeutete, dass die Mehrzahl von ihnen ihre Waren schulterten und die meiste Zeit unterwegs auf Wanderschaft waren.

Der Niedergang des Handwerks wurde durch die neue preußische Regierung und deren Gesetzgebung eingeläutet. Zum einen war bereits 1810 der Zunftzwang aufgehoben, so dass von nun an Gewerbefreiheit herrschte. Jedermann hatte das Recht zur Wahl des Berufes und zur Gründung eines Betriebes, ohne dass ein Befähigungsnachweis – wie zuvor noch von den Zünften – verlangt wurde. Zum anderen wurde der Hausierhandel 1820 durch horrende Gewerbesteuern drastisch eingeschränkt, was das Schuhhandwerk nahezu zum Erliegen brachte. Die ortsansässigen Gewerbetreibenden konnte die preußische Regierung jederzeit zur Steuerleistung heranziehen, der umherziehende Schuhmacher hingegen konnte sich dieser Verpflichtung leicht entziehen. Die Steinheimer Stadtchronik vermerkt dazu: „Ferner ernährte sich ein großer Teil der Bürger durch das Schuhmachergewerbe, indem sie die verfertigten Schuhe in der benachbarten Gegend zum Verkaufe anboten und dann sich durch den Ankauf von Häuten – aus anderen Gegenden – welche sie selbst zubereiteten, bedeutenden Nutzen verschaffen. Seitdem jedoch im Jahre 1820 die schwere Gewerbesteuer auf den Hausierhandel mit Schuhen gesetzt ist, hat das Herumbringen der Schuhe in andere Gegenden und Ortschaften ganz aufgehört“.

Familie Vietmeyer
Familie Vietmeyer

Durch die neuen Gesetze gerieten die Steinheimer Schuhmacher in große Not, da für den lokalen Markt ein Überangebot bestand. Und so mußte der größte Teil der Schuhmacher fortan als Tagelöhner seinen Lebensunterhalt verdienen, sofern er nicht ein Stück Land besaß, das er als Ackermann bewirtschaften konnte. Stellvertretend sei hier der Schuhmachermeister Gerhard Vietmeyer (41 Jahre) genannt, der 1840 mit seiner Frau Wilhelmine Wichen, drei Kindern sowie dem Schuhmachergesellen Joseph Wiechers und dem Schuhmacherlehrling Anton Brockmann in der „Rosenthaler Straße Nr. 183 (Hausnummer 195)“ wohnte. Er sollte später noch drei weitere Söhne bekommen. Gerhard Vietmeyer muss ein qualifizierter und angesehener Schuhmacher gewesen sein, der 1833 ein Paar Stiefel für den Forstbeamten Tigges anfertigte.

Überweisung 5 Taler an Herrn Vietmeyer
Überweisung 5 Taler an Herrn Vietmeyer

Danach konnte er seine Familie wohl nicht mehr durch seine Schusterarbeit ernähren, denn in den 1840er Jahren fand er in Köslin in Pommern eine berufsferne Arbeit im Straßenbau, da ihm der dortige Chausseebetreiber 1843 noch einen Restlohn von fünf Reichstalern nach Steinheim überwies. Jedoch verlief die weitere auswärtige Arbeitssuche nicht erfolgreich. 1854 wanderte er – wie so viele seiner Landsleute in dieser Zeit – mit seinem Sohn Anton nach Amerika aus, um der hiesigen wirtschaftlichen Not zu entkommen. Seine Frau bleib jedoch in Steinheim; zehn Jahre später folgten dem Vater zwei weitere seiner Söhne nach Amerika.

Eine der wenigen Steinheimer Familien, die ihrer ursprünglichen Profession treu geblieben sind, ist die Familie Stefan Brockmann, deren Vorfahren nachweislich seit dem Jahr 1774 das Schuhmacher Handwerk ausübten und die heute in der fünften Generation ihr Schuh- und Orthopädiegeschäft betreiben. Eine weithin unbekannte kleine Steinheimer Schuhsammlung befindet sich im Haus der Familie Wiechers in der Detmolder Straße, das jedoch aufgrund von Platzmangel in einem einzigen Raum untergebracht ist. Die gesammelten Schuhe illustrieren anschaulich 100 Jahre Schuhgeschichte (von 1900 an). Ein außergewöhnliches Exponat stellt dabei der „Weltmeisterschuh von 1954“ dar. Beim sogenannten Wunder von Bern gelang es nämlich der deutschen Nationalelf am 4. Juli 1954 in Bern die favorisierte ungarische Mannschaft 3:2 zu schlagen und so den Weltmeistertitel zu gewinnen. Dabei verhalfen ihnen die brandneu entwickelten Schraubstollenschuhe zu einem besseren Stand auf dem weichen, nassen Rasen, da es während des gesamten Spiels in Strömen regnete. Auch altes Handwerkszeug von Schuhmachern ist hier zu bewundern.