Das traurige Schicksal des Lumpensammlers Gottschalk Lehmann
Eine gesellschafts- und sozialhistorisch höchst interessante Akte im Stadtarchiv „Acta Juden im Allgemeinen und deren Civilstand betreffend von 1806-1836“ beleuchtet das Le-ben der hiesigen jüdischen Mitbürger, die man damals auch als „Israeliten“ bezeichnete.
Ein Schreiben des Steinheimer Bürgermeisters Vahle an den Höxteraner Landrat dokumentiert dabei das Schicksal des jüdischen Lumpensammlers Gottschalk Lehmann aus Pömbsen (Bad Driburg), der 1834 in Steinheim verstarb. In diesem Schreiben berichtet der Bürgermeister über einen seltsamen Vorfall, der sich am 13. Februar 1834 im Hause des Schneiders Ferdinand Beckmann ereignete. Folgendes war passiert: Gottschalk Lehmann hatte seit einiger Zeit als Lumpensammler und Knecht bei dem Juden Itzig Pulvermacher in Wöbbel gedient.
Lumpensammler zogen früher von Dorf zu Dorf sowie durch städtische Straßen und sammelten Alttextilien und Stoffreste. Papiermacher kauften diese auf, da textile Fasern ein wichtiges Material für die Herstellung von Papier waren. Diese armen, häufig invaliden Menschen hatten jedoch keinen guten Ruf, sie verbreiteten einen unangenehmen Geruch, da sie häufig auch unter Unrat nach Stoffresten suchten, sie trugen zerschlissene Kleidung, und die Gesichter und Hände waren dreckig.
Besagter Lehmann nun „soll aber beim Nachgehen seines Geschäftes in Blomberg oder Herntrup erkrankt und nach Wöbbel zurück transportiert worden sein".
Als sich sein Gesundheitszustand immer mehr verschlechterte, erteilte ein Bauernrichter aus Wöbbel dem Meier (Pächter) Wortmann den Auftrag „zur Fortbringung des Lehmann nach Steinheim ohne jedoch weder einen Transportzettel noch sonstiges Schreiben auszustellen“. Das war in der Tat äußerst ungewöhnlich, ja sogar ungesetzlich, benötigte man doch ein Paßdokument oder ein amtliches Schreiben, um vom lippischen Wöbbel ins preußische Steinheim zu gelangen! Was danach geschah, war noch abenteuerlicher: „Der Wortmann hat den Auftrag ausgeführt, indem er den Kranken auf einen Wagen ladet, hierher (d.h. nach Steinheim) bringt und vor der Wohnung des Johann Wilhelm Stiedel am Oberen Thore abladet“.
Unverzüglich fuhr der Wortmann dann wieder zurück nach Wöbbel. Die Ehefrau des Wegewärters Friedrich Bonsen sowie die Frauen des Schankwirtes Johann Wilhelm Stiedel und des Anton Lange waren Zeugen dieses seltsamen Vorganges. Der vom Wagen abgeladene, kranke Lehmann erhob sich hingegen und „ging in einem hin- und herschaukeln jedoch ohne Hülfe nach der Wohnung des Ferdinand Beckmann circa 400 bis 500 Schritte weit“, wo er sich Kaffee bereiten ließ, „solchen genossen und ungefähr 2 Stunden nachher gestorben ist“. Der Bürgermeister schließt seinen Brief: „Dies ist was ich mit Bezug auf meinen Bericht vom 14. des Monats von der Sache in Erfahrung gebracht habe“.
Die unter der Steinheimer Bevölkerung aufkommenden Gerüchte, dass man den jüdischen Lumpensammler vergiftet hätte, konnte der Arzt Dr. Köchling jedoch schnell widerlegen. Er bestätigte, daß dieser eines natürlichen Todes gestorben sei. Man kann nur mutmaßen, was hinter der abenteuerlichen Aktion der lippischen Bürger aus Wöbbel gesteckt haben mag. Vielleicht wollten sie sich die Kosten des Begräbnisses eines preußischen (Pömbsen gehörte ja zum Königreich Preußen) Juden ersparen, indem sie annahmen, daß die jüdische Gemeinde in Steinheim schon dafür sorgen würde. Denn diese war bekannt dafür, daß sie sich stets um ihre Glaubensbrüder kümmerte und auch finanziell unterstützte.
So können wir nur hoffen, daß Gottschalk Lehmann seine ewige Ruhestätte auf dem heute so idyllisch anmutenden Steinheimer jüdischen Friedhof gefunden hat. Seinen Grabstein werden wir allerdings vergeblich suchen, denn das alte Gräberfeld mit den Bestattungen vor 1846 wurde aus Platzmangel überwölbt, da ein jüdisches Grab ein ewiges Ruherecht hat.