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Beschwerdebrief über die Polizei

Eine spannende Akte im Stadtarchiv enthält die Beschwerdeschrift des Kaufmanns Franz Anton Walbaum gegen die hiesige Polizei zu Steinheim sowie gegen den Steuer-Controlleur Traufeld, den Controlleur Meyerhoff und den Rendant Rohden (Karton 193), ein Dokument, das man heute wohl als „Dienstaufsichtsbeschwerde“ bezeichnen würde.

1.Seite des Briefes an den Landrat
1.Seite des Briefes an den Landrat

Die Beschwerde ist sowohl kulturhistorisch als auch vom juristischen Standpunkt aus interessant, gewährt sie doch Einblicke in die Steinheimer Gesellschaft und deren moralische Ehrbegriffe. Um 1822 standen im Ort dem Heer der Ackerknechte, Tagelöhner und Handwerker die studierten Akademiker wie Verwaltungsbeamte, Pfarrer, Ärzte, Apotheker sowie wohlhabende Kaufleute und Gutsbesitzer gegenüber.

Die vorliegende Beschwerde verfasste der Gutsbesitzer und Handelsmann Franz Anton Walbaum, der sie an den für Steinheim zuständigen Landrat von Borch in Holzhausen schickte. Die einleitenden Worte des Schreibens sind derartig mitleiderregend abge-faßt, gleichermaßen auch poetisch, so dass der Leser sofort Partei für den Kaufmann ergreift: „Hier zu Steinheim von jedermann verachtet, gemaßhandelt und verlassen, wage ich es nicht mit Unrecht mich erst an euer Hochwohlgeboren schriftlich zu wenden, wohlwissend daß Euer Hochwohlgeboren mir helfen können und mir Schutz und Schirm angedeihen lassen“.

Des Weiteren beschreibt er höchst eloquent das Unrecht, das ihm zugefügt wurde. Ein Streit mit dem Kaufmann Lammers, bei dem es um eine ausstehende Geldschuld ging, eskalierte in der hiesigen Engel-Apotheke, in der man sich gerne zu einem Plausch bei einem Liqueur traf: „dabei brach dessen Wuth in der hiesigen Apotheke gegen mich aus. Er warf mich aus der Apotheke, so daß ich sinnlos und überrascht nach Hause taumelte“.

Dort verhaftete ihn jedoch der Gendarm Genisky, der „...mich in ein unterirdisches Ge-wölbe (der sog. Bürgerzwang) ganz tief in die Erde warf. ... Man brachte mir weder Licht noch Stroh noch weniger Lebensunterhalt obwohl ich alles für Geld forderte, aber umsonst. Verlassen in der Dunkelheit dieses Gewölbes litt ich“. Zudem trieb man allerlei Schabernack mit ihm: Statt der wegen seiner Kurzsichtigkeit angeforderten Brille brachte man ihm eine Narr(en)brille; man lästerte über ihn und verlachte ihn. Weiterhin bemerkt Walbaum, dass man nur ihn eingesperrt hätte, nicht aber andere, die bekanntermaßen schwerwiegende Verbrechen begannen hätten. Er beschuldigt die Polizei damit mehr oder weniger offen der Korruption.

Er schließt seine Beschwerde: „Meine Gesundheit leidet, indem ich von des Abends 6 Uhr bis zur Morgenzeit 9 Uhr unter dem unterirdischen Gewölbe litt“, er außerdem des Arztes Dr. Tienen bedürfe wegen der erhaltenen Rippenstöße, kurzum er verlange Gerechtigkeit!

Der angeschriebene Landrat forderte zeitnah vom Steinheimer Bürgermeister eine Stellungnahme zu diesem Fall: „Herrn Bürgermeister Vahle in Steinheim um zu berichten, ob die Arrestation und Einsperrung des Kaufmanns Walbaum auf einem von irgendeiner Behörde ausgegangenen Befehl am 22. (November 1822) erfolgt ist und was es mit den Beschwerden desselben im Allgemeinen für eine Bewandtnis hat.“ Hierauf verfasste Vahle einen 21 Seiten (!) langen Antwortbrief. Darin ging der Bürgermeister zunächst ganz allgemein auf den Charakter des Beschwerdeführers sodann auf den aktuellen Anlaß ein. Der Beginn liest sich fast wie ein psychologisches Gutachten: „Der Walbaum kann bekanntlich eine fromme Mine annehmen und eine so mitleiderregende Sprache führen, daß jeder, der nicht öfters Umgang mit ihm hat und ihn nicht genau kennt, ihn für einen Märtyrer der verfolgten Unschuld halten sollte.“ Und weiter: „Beträgt sich derselbe gegen seine Eltern und Geschwister nicht so wie es Religion und die Naturgesetze wollen, sondern beleidigt sie gröblich mit Worten und tätlich“. So soll er etwa seinen 12jährigen Bruder an einen Baum gebunden und diesen gequält haben. Kurzum Franz Anton Walbaum sei ein Unruhestifter, ein Querulant und ein Trunkenbold, der mit den Nachbarn in ständigem Streit stehe und sich in den Wirtsschenken den niederen Ständen anbiedern würde.

Akte über die Beschwerde des Kaufmanns Walbaum
Akte über die Beschwerde des Kaufmanns Walbaum

Mehrmals betont Vahle, wie unschicklich, ja geradezu verwerflich es doch sei, daß der studierte und akademisch gebildete Kaufmann und Gutsbesitzer Walbaum sich oft mit Leuten einließ, die unter seinem Stand seien und sich häufig mit ihnen betrank. Diese dankten es ihm aber nicht, sondern hätten ihn bei einer Gelegenheit sogar in einen Kanal geworden. Bei der Anzeige auf dem Polizeirevier tropfte Walbaum mit seiner Kleidung deshalb die Schreibstube naß.

Die Vorgänge des aktuellen Anlasses der Beschwerde schildert Vahle völlig anders: Walbaum sei bereits betrunken in die Apotheke gekommen „und habe ebenfalls ein Glas Liqueur gefordert und getrunken, habe aber auch zugleich die gute Eintracht dadurch gestört, weil er den Kaufmann Lammers in der Apotheke öffentlich wegen seiner Schuldforderung gemahnt habe“ und gerufen habe: „gebt mir noch einen, dann will ich mit dem schlechten Kerl sprechen.“

Nach weiteren Beleidigungen gegen Lammers komplementierte ihn der Gendarm jedoch aus der Apotheke und lieferte ihn zu Hause ab. Kaum hatte er sich umgedreht, rannte Walbaum zur Schenke um weiter zu trinken. Als Genisky ihn daran hindern wollte, rief dieser aus: „Ihr könnt mich alle miteinander am A ... lecken!“ Der Gendarm hätte es aber nicht zulassen wollen, dass rechtschaffende Bürger später zu nachtschlafender Zeit durch das Geschrei eines Trunkenboldes gestört würden und brachte ihn deshalb auf Vahles Geheiß ins Gefängnis.

Zum Schluß betont der Bürgermeister, dass er gesetzlich das Recht hätte, jeden Unruhestifter für 24 Stunden in Arrest zu nehmen und Walbaum sicherlich auch keinen großen Schaden für die kurze Zeit im Bürgerzwang erlitten hätte. Auf die Ereignisse im Gefängnis selbst, für die der Beschwerdeführer sogar Zeugen benannt hatte, ging der Bürgermeister allerdings nicht ein. Man gewinnt deshalb den Eindruck, daß die Aufseher des Bürgerzwanges durchaus die Gelegenheit genutzt haben könnten, ihre Abneigung gegen besagten Kaufmann durch allerlei Scherze zum Ausdruck zu bringen.

01.03.2024